Wer Michel Serres nicht kennt, ist deshalb kein unbelesener Ignorant. Ich wurde auch erst durch den frankophilen Starphilosophen Peter Sloterdijk auf ihn aufmerksam. So nahm ich mir zu Weihnachten (anlässlich Jesus Geburt) Serres jüngstes – und definitiv letztes – Werk zur Hand: „Das Verbindende“ – eine Sammlung von Essays religiöser Art. Darin prophezeit der Achtundachtzigjährige kurz vor seinem Tod, dass auf unser analytisches Zeitalter der Trennung und Zerstörung bald ein neues folgen wird: Eines der Verbindungen wird anbrechen.
Zwei Existenzweisen – zwei getrennte Arten von Menschen
Serres sieht derzeit eine immer stärkere Trennung von Stadt und Land, und damit eine immer größere Kluft zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen. Jesus zeigt in den Evangelien aus Serres Sicht diesen Gegensatz zwischen Land und Stadt: Zu jenen Zentren, die sich „besetzt von einer vermögenden, ruhmreichen, mächtigen Minderheit, parasitär, von der Landbevölkerung, den Bauern, den Ziehvätern der Menschheit ernähren lassen.“
Bis zum 19. Jahrhundert lebte auch nur ein kleiner Teil der Menschheit in solchen Städten: Sparta und Athen, Rom und Karthago, Babylon und Jerusalem – dort saßen schon in der Frühzeit all die Behausten innerhalb ihrer Mauern, getrennt und fernab der ländlichen Kultur. Heute sind es New York oder Peking, London oder Tokyo, wo die Eingeengten ohne Sicht auf den Himmel in den steinernen Steilwände ihrer Straßenschluchten, eingeengt auf ihre familiären Beziehungen, all jene ausgrenzen, die nichtzugehörig sind.
Jesus ist für Serres ein „Landmensch“ – daher auch dessen dessen natürliche Bedürfnislosigkeit, die Ablehnung des Materiellen. Die Gleichnisse der
Evangelien, deren Erzählungen an den Ufern des Jordan, in der Wüste, am See, manchmal auch im Sturm, unter Fischern spielen, sind von ländlicher Kultur durchdrungen“, verweist er etwa auf dessen berühmteste Predigt: Jene, die er draußen auf dem Berg gehalten halt. Oder dessen See-Rede, in der Jesus mit einer Vielfalt erdnaher Vergleiche den ländlichen Zuhörern das Reich Gottes verständlich machen wollte.
Jesus räumt auf!
Jesus, jener Unbehauste, dessen Zorn der „Religion der Stadt“ gilt, der Religion der Pharisäer und Tempelhändler. Eine Religion für jene, welche die Verbindung zwischen Himmel und Erde verloren haben. All jene Glaubensgemeinschaften, Gruppen und Kollektive aller Art, welche als „weltliche Macht“ die „Anderen“, die Außenstehenden, aus „ihrer“ sozialen Gemeinschaft auszuschließen trachten. Dem stellt er die „geistliche Macht“ gegenüber: Luftig, extensiv, nach Allgegenwart strebend – so vermag das von Jesus gepredigte Geistliche das harte, lokale Weltliche umzukehren.
Einmal Jude – immer Jude?
Woher kommt die Religion? „Das Judentum stellt sich als Religion, als eine der bewundernswertesten, aber auch der Abstammung dar“, versucht Serres, die Wurzeln des Judentums zu ergründen: „Jüdin und Jude wird man als Kind einer jüdischen Mutter. Es mag also jemand zum Beispiel der Thora kein Wort glauben oder die Propheten nicht mehr in Ehren halten oder diese nicht einmal kennen – so wird sie oder er Israelitin oder Israelit bleiben -und sich auch so nennen, weil sie von einer Frau derselben Herkunft abstammen“, ersetzt auf diese Weise die Genealogie die kollektive Beziehung. „Der Preis dafür ist die Beschränkung dieses Bundes auf ein auserwähltes Volk.“
Im Gegensatz dazu unterscheidet sich das Christentum durch eine andere, von der Genealogie befreite Art der Beziehung: „Wer den Glauben verloren hat, wird nicht länger behaupten, Christ zu sein. Weshalb? Weil die fragliche Beziehung von der Familie, und durch eine außerordentlichen Entscheidung, sogar vom Mutterleib abgelöst ist.“ Die in der jüdischen sozialen Ordnung durch Blutsbande definierte Familie als Mittel zur Erlangung sozialer Macht wird im Christentum durch eine neue soziale Ordnung abgelöst.
Wie kommt es aus Serres Sicht nun zu dieser „Dekonstruktion der sogenannten natürlichen Blutsverwandtschaft“, die für ihn der Quell jeglichen Rassismus ist? Was führt zur christlichen Loslösung von den genealogischen Abhängigkeiten, dem alten Verwandtschafts- und Stammesdenken? Wo wir doch wissen, dass Jesus nicht der natürliche Sohn Josefs ist; wo es anderseits aber unmöglich ist, dass Maria nicht seine leibliche Mutter ist, „da wir alle aus einem weiblichen Bauch kommen.“
Die christliche Wahlverwandtschaft
Für Serres ist ein vom Christentum propagiertes neues Familienschema das entscheidende Element der Dekonstruktion der natürlichen Abstammung: Die Jungfräulichkeit Marias und die „Heilige Familie“ als tiefgreifende Neuerung in einer dazumal ganz auf familiäre Abstammung gegründeten Gesellschaft. Auf zwar auf Basis der von den Römern übernommenen Rechtsstruktur der Adoption, der Wahlverwandtschaft.
Der genealogische Zwang des Judentums wird im Christentum ohne Rücksicht auf derart geburtsbedingte Blutsbande durch die aus freien Stücken gewählte Liebe als einzig wahre Beziehung ersetzt. „Daher der universale und rationale Charakter des neuen Beziehungsmodells, der sich gerade in der Öffnung für das scheinbar Fremde ausspricht.“ Durch die Möglichkeit „der Wahl zwischen einer schicksalhaften Notwendigkeit der Blutsbande und einer neu geschaffenen Freiheit öffnet sich die Menschheit zum ersten Mal dem Universalen“, diagnostiziert Serres.
Für ihn begründet die christliche Theologie die Dekonstruktion einer archaischen Familienzugehörigkeit, die auf biologischer und körperlicher Abstammung beruht. „Was willst du von mir , Frau“ sagt Jesus
in Johannes 2,4 (in seiner heutigen Übersetzung) bei der Hochzeit zu Kana zu seiner Mutter. (In der alten Luther-Version klang das noch schroffer: „Weib, was hab ich mit dir zu schaffen“.) In Matthäus 10,37 wird Jesus noch deutlicher: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich ist meiner nicht wert.“ Die städtisch-familiären Banden mit der damit eng verbundenen Ablehnung „Anderer“ – etwa auch in Form eines Heiratsverbotes von Nichtjuden – werden seit Jesus durch eine spirituelle, den „Anderen“ gegenüber offene geistliche Beziehungen ersetzt.
Diese neue soziale Ordnung wird nicht durch völkische Geburt, sondern durch den gemeinsamen Glauben und die gemeinsame Liebe dieser Kinder Gottes untereinander zusammengehalten. Ein neuer Weg zum Heil, bei dem Jesus – wie etwa auch Buddha – kein Gott, sondern ein Wegweiser ist. Was auch schon lange vor Serres Karl Kolm in seiner atheistischen Evangelienharmonie „Jesus trifft Buddha“ dargelegt hat.
Die Erfindung des jüdischen Volkes
Welche Rolle das Judentum (für den Katholiken Serres trotz genealogischer Zwangsmitgliedschaft eine der „bewundernswertesten Religionen“) künftig als genealogisch „auserwähltes Volk“ in einem vom religiösen Rassismus befreiten christlichen Weltbild spielen soll, erläutert Serres nicht. Diese offene Frage hat möglicherweise der in Linz geborene israelische Religionshistoriker Shlomo Sand mit seinem (vielfach kritisierten) Werk „Die Erfindung des jüdischen Volkes – Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand“ 2009 gelöst. Indem der Jude Sand das von Serres aufgestellte Axiom einer unauflöslichen religiösen Bindung des Einzelnen und des ganzen Volkes als genealogische Grundlage des Judentums als reinen Mythos entzaubert.